Plötzlich kommt der eben vorbeigefahrene Truck retour, biegt auf den Parkplatz vor der Tankstelle ein und fährt auf uns zu. Drei herzhaft und breit lachende Gesichter zeigen sich uns durch die Windschutzscheibe des leeren Kohletransporters.
Nachdem wir einigen privaten “Taxifahrern”, die ein Geschäft mit der Mitnahme von zwei Schweizer Radlern nach Sary Tash rochen, abgesagt haben, bietet sich uns nun nach zirka 45 Minuten “stöpplen” eine echt abenteuerliche Mitfahrgelegenheit – und dies gratis! Die Velos inklusive aller Taschen auf der leeren Ladefläche behutsam und zugleich dem hier angesagten Fahrstil angepasst an die Kabine gezurrt, fahren wir los. Elhaman, der Fahrer hat sich meinen Velohelm geschnappt und trägt diesen nun mit allem Stolz – in der Fahrerkabine, die ganze Fahrt lang! Als dann noch ein “TYPИCT”-Schildchen – während des Fahrens auf dem Steuerrad angefertigt – für alle anderen Verkehrsteilnehmer gut ersichtlich vor dem behelmten Chauffeuren hinter der Windschutzscheibe platziert wurde, ist das Gaudi perfekt.
Zirka drei Stunden kurzweiliges Fahren und jede Menge Lacher später, heissen wir Elhaman vor der uns bereits bekannten Aschkhana anzuhalten. Als Dank fürs Mitnehmen offerieren wir den drei stetigen Mitfahrern, sowie dem unterwegs zugestiegenen Freund derer, eine Suppe und die von uns so geliebten Momos. Nachdem die Thermosflasche mit frischem Tee gefüllt worden ist, die Velos vom Truck abgeladen wurden und ein Erinnerungsphoto geschossen worden ist, düst der MAN - Modell Ex-Deutschland - davon. Und wir pedalen gemütlich durch Sary-Tash hindurch und biegen an der einzigen Kreuzung im Dorf links – nach Osten, gegen China – ab.
Das Alajtal raubt uns während der zirka 80 verbleibenden Kilometern schier den Atem. Durch die Weite des Tales schlängeln sich zig kleine Bächlein, welche hin und wieder zu einem grösseren Strom verlaufen, um sich ein paar Kilometer weiter erneut zu teilen. Eine Herde halbwilder Pferde erlabt sich an den letzten, nun schon goldbraun leuchtenden, Grasflächen während im Hintergrund die Gipfel des Pamirs durch die gegen Westen vorbeiziehenden Wolken lugen. Idylle pur!
Das Winken des einsamen Wegwartes aus seiner Hütte erwidern wir freudig, ebenso wie ein Hupen der spärlich vorbeifahrenden Camioneure, meist chinesischer Herkunft. Der Irkeshtampass ist wider erwarten tiefer gelegen, als uns dies die Karte prohezeite. Dennoch sind wir uns nach ein paar Tagen rund um Osh die Höhe bereits schon wieder nicht mehr so gewohnt und unsere Radlerherzen “pöperlen” gehörig auf dem faut-plat-montant zur Passhöhe, welche wir am späten Nachmittag erreichen. Die Stimmung ist einmal mehr gewaltig. Die tief stehende Sonne färbt die weissen Gipfel in ein zartes Abendrot, während zwei grosse Greif durch die nun grau gewordenen Wolken das Tal über uns hinweg queren.
Auf einer Anhöhe mit Blick auf das künstlich an die Grenze gebaute Blechhaus-Dorf Nura picknicken wir und versuchen auszumachen, welche Gipfel denn nun schon auf chinesischem Boden stehen müssten. Nach einem kleinen Abfährtchen zum Dorf wollen wir die letzten kirgisischen Som loswerden. Doch anstatt für die im Magazin ausgewählten Leckereien zahlen zu dürfen, werden mir diese geschenkt und wir darauf hin von der Verkäuferin zu Cay und frischem Brot mit Konfitüre eingeladen. Wir geniessen das wohl letzte Mal kirgisische Gastfreundschaft mit allen Sinnen und sind dankbar, als unsere Gastgeberin schliesslich die für uns schon bald nutzlosen Som als Geschenk für die beiden um uns herumturnenden Kinder akzeptiert. Einmal mehr berührt von menschlicher Herzlichkeit und dankbar pedalen wir die letzten Kilometer dem kirgisischen Grenzposten zu.
Dort erwartet uns ein spezielles Bild. An die 150 LKWs bilden auf der Strasse eine lange Schlange oder füllen die Parkplätze rund um einige Containermagazine und -unterkünfte lückenlos aus. Wir schlängeln uns durch den Planenwald, unter Begutachtung von zig Augenpaaren gelangweilter Chauffeure, vorbei an - der wohligen Wärme in den Kabinen dienenden - dreckig hustenden dicken Auspuffrohren und auf Gaskochern blodernden Teekannen inmitten von Campingstühlen. Am Kopf der Maschinenschlange angekommen, finden wir uns neben einem einfachen Gasthaus und der Baustelle einer neuen Moschee vor geschlossener Barriere wieder. Alles scheint erstarrt zu sein. Eingefroren; gepaart mit der Stimmung eines Goldrausches – so kommt es mir vor. Der Grund für all dies ist ein einfacher: Während der sogenannten Golden Week, den wichtigen Herbstferien Chinas, blieben dessen Grenzposten geschlossen und so mussten auch die Kirgisen ihre Tätigkeit einstellen. Die Folge: Rien ne va plus! Alle müssen warten; sich die Zeit vertreiben.
Etwas erhöht auf einem Hügel nahe der Strasse schlagen wir unser Zelt für die letzte Nacht vor dem Run auf China auf. Noch im Morgengrauen packen wir inmitten einer Pferdeherde unser Zelt zusammen und stehen bald darauf mit den ersten Fussgängern – wo die auch alle hergekommen sind – zwischen Barriere und einer Wand vor sich her surrender Dieselmotoren. Punkt 08:00 Uhr geht die rot-weisse Schranke auf und der Pulk träppelt hastig dem Passkontrollgebäude zu, wo gekonnt Gedrängelt wird. Wen kümmerts? Uns jedenfalls nicht und so lassen wir geduldig vor, wer das Gefühl hat, es könne nun nicht schnell genug gehen.
Nach mehrfachen krigisischen Checks des Ausreisestempels und nach der ersten Passkontrolle - unter der im leichten Morgenwind flatternden roten Flagge mit gelben “Verzierungen” - radeln wir endlich ein ins Reich der Mitte, dem Zielland unserer Radreise. Ein spezieller, berührender Moment. Es scheint uns kaum fassbar, dass wir nun “schon” da sind. Freudig und euphorisch treten wir für ein paar Kilometer auf chinesischem Boden in die Pedale. Eine kahle, rot-graue Landschaft umgibt uns und bildet im Kontrast zum tiefblauen Himmel eine sonderbare Stimmung.
Die Freude zerschlägt sich jedoch bald. Denn beim ersten grossen Grenzgebäude werden wir schonungslos mit den Regeln Chinas konfrontiert. Diese sagen, nachdem einem kontrollhalber die Pässe entnommen wurden, dass alle Fussgänger – zu welchen auch wir gezählt werden – in ein Taxi steigen und zum Hauptkontrollposten in Ulugqat gefahren werden müssen.
Versuche, den Beamten klar zu machen, dass wir mit unseren Fahrrädern “fahrtüchtig” seien und selbstständig zur Passkontrolle gelangen können, stossen auf keinerlei Resonanz. Im Gegenteil heisst es nur noch viel strenger “Ab mit dem Fahrrad auf die Ladefläche des Pickups”, während dem Taxifahrer die Pässe überreicht werden. Dieser annonciert vor der Abfahrt den Preis pro Person und Velo, ehe er auf die brandneue Autobahn einbiegt. Nach einem Tiefflug durch die staubig-trockene Landschaft, der Abfertigung im Kontrollposten, einer Begleitung zur Wechselstube und der Begleichung der Taxirechnung finden wir uns erschlagen irgendwo auf einem Platz am Rande von New Ulugqat, wie es genannt wird, wieder. Verwirrt und konsterniert, doch mit Stempel im roten Büchlein. Es braucht einige Zeit, bis wir uns gefangen haben.
Nachdem wir einen Happen gegessen und uns etwas ausgeruht haben, gondeln wir ins Stadtzentrum. Auf breitspurigen, seidenfein asphaltierten Strassen fahren wir an kleinen Mechanikerbuden, Allerweltsläden, Schulhäusern und Baustellen riesiger Wohnbauten vorbei. Die von allen möglichen Fahrzeugtypen geteilten Fahrbahnen werden von eng beieinander stehenden Strassenlampen gesäumt, die alle mit der Chinesischen Flagge, einer Lampionkette oder irgend einem Chinesischen Zeichensatz versehen sind. Auf unserer Stadtrundfahrt treffen wir am südlichen Stadtrand auf eine Parkanlage, welche auf einem kleinen - anscheinend künstlich aufgeschütteten - Hügel errichtet wurde. Wir nehmen die paar Stufen unter die Füße und erfreuen uns der unerwartet weiten Aussicht vom neuen, im traditionellen Chinesischen Stil errichteten Pavillon zuoberst auf dem Hügel. Wir sehen zig, neuzeitliche Blockbauten und Bürogebäude, die in die nach moderner Chinesischer Manier in Höhe ragen und ihresgleichen suchen. Doch bei genauerem Hinsehen fallen zwischen den vielen hohen Neubauten etliche einstöckige Flachdachbauten auf, wie sie schon seit langer Zeit aus dem rotbraunen Boden hier errichtet werden und eher an die zuvor bereisten Länder erinnern. Ganz nah am Park steht denn auch eine gigantische Yurte, die wohl als Freizeitzentrum genutzt wird - komplett in Beton errichtet und weiss bemalt sowie mit typisch kirgisischen Verzierungen bestückt.
Das Gefühl, zwar offiziell in China und dennoch voll in Zentralasien zu sein, wird uns schliesslich klar bestätigt, als wir auf dem Pavillon nur von kirgisisch-stämmigen Besuchern des Parks umgeben werden. So überrascht es uns denn auch überhaupt nicht mehr, dass die Hochzeitsgesellschaft, welche im Fahrzeugkonvoi auf den Hügel angebraust kommt und zum Photoshooting aussteigt, - wie könnte es denn auch anders sein - kirgisische Gesichtszüge aufweist.
Nach zwei Tagen im Sattel durch eine leicht hügelige steppenartige Landschaft, teils entlang der neuen Autobahn und vorbei an Kamelen und Ziegen am Strassenrand, fahren wir am späten Nachmittag in Shang’atushixiang ein. Auf einer sich lange erstreckenden, breiten Hauptstrasse, gesäumt von grossen Pappeln, nähern wir uns dem Zentrum der Ortschaft. Während der Einfahrt werden wir von Bauern mit Kleintraktoren, von randvoll beladenen Dreirädern und von unzähligen Oberstufenschülerinnen und -schülern, meist zu zweit oder zu dritt auf einem Elektroroller, begleitet. Ein eifriges Treiben um uns herum, welches uns einerseits staunen lässt und von uns andererseits höchste Konzentration abverlangt, um keine Kollision mit den uns ebenfalls anstaunenden Verkehrsteilnehmern zu provozieren.
Wir treffen auf einen nahe der Strasse gelegenen Bazaar, der sich als Ursprung des geschäftigen Treibens herausstellt. Just in dem Moment, als wir die Velos parkieren und uns einem Brotbäcker nähern, ertönt ein Knall sondergleichen - wie eine Explosion und ohrenbetäubend laut. Wir drehen uns zur Strasse um, wo der Knall scheinbar herkam. Zunächst ist nichts zu erkennen, was einer Detonation oder Explosion entspräche, doch dann erkennen wir, dass der Innenreifen an der dritten Achse eines Lastwagens wild umherflattert und allem Anschein nach geplatzt sein muss. Ob dem riesigen Schrecken immer noch etwas verdattert, widmen wir uns dann doch dem Bäcker, seiner Brotbackkunst und dem feinen Fladenbrot mit Zwiebeln und Schwarzkümmel - frisch aus dem Ofen -, worauf wir uns wieder etwas beruhigen können.
Ein letztes Mal schlagen wir unser Zelt auf. Nahe an der Strasse finden wir einen Acker, welcher von Pappeln umgeben und mit Mais-Hirse-ähnlichen Pflanzen - sieht man hier übrigens überall - bestellt ist. Inmitten dieser Pflanzenpracht ist ein freier Fleck wie geschaffen für unsere grüne Villa und so machen wir es uns gemütlich, haben schier den Eindruck, etwas versteckt zu sein. Doch weit gefehlt, denn am nächsten Morgen erhalten wir Besuch von 4 Bauern, die neugierig unsere Ausrüstung begutachten und allerhand wissen wollen. Mit Händen und Füssen sowie mit ein paar Auszügen aus unserem Russisch-Vokabular können wir uns verständigen, wenn auch nur dürftig. Generös helfen sie uns, die Fahrräder durch den Bewässerungsgraben wieder auf den Strassenzubringerweg zu hieven, bevor wir unter ihren - nach wie vor neugierigen Blicken - zu unserer letzte Etappe aufbrechen.
Unsere Karte zeigt nur eine Möglichkeit, um nach Kashgar zu gelangen. Über die Autobahn. So fahren wir schön der nigelnagelneu asphaltierten Strasse entlang zur Autobahnauffahrt. Doch das schon von Weitem sichtbare Schild, was denn alles nicht auf die Schnellstrasse darf, lässt uns erahnen, dass wir uns um eine Alternative kümmern müssen. Und als ich - nur um nach dem Weg zu Fragen - in die Einspurstrecke zur Auffahrt einbiege, kommen mir zwei Blauuniformierte mit gelben Leuchtwesten entgegen gerannt und lassen lauthals verlauten: “No bicycles, no bicycles here!” Nach Erhalt einer Beschreibung für einen alternativen Weg kurven wir alsbald in der korrekten Himmelsrichtung Kashgar entgegen.
Die Strasse führt mitten durch eine riesige Friedhofsanlage, wo vom prunkvollen, riesigen, überdachten Familiengrab aus grossen Steinplatten bis hin zum einfachsten Holzpflock mit eingravierten Initialen hinter einem Kieshaufen alles zu sehen ist. Seltsam einerseits, dass sowohl die Nebenstrasse als auch die Autobahn mitten durch diese Anlage geführt wird, als auch andererseits, dass der Friedhof nicht nur für menschliche Überreste Platz bietet, sondern auch viel Müll hier und da deponiert wird.
Schliesslich erreichen wir eine kleine Anhöhe, von welcher sich mit Blick in den neblig-dunstigen Horizont erste Konturen des Ballungszentrums Kashgar erahnen lassen. Nach und nach schärfen sich diese Konturen zu Hochhäusern, Fabrikgebäuden, Bürobauten oder Wohnblöcken und wir rollen richtiggehend in die Stadt Kashgar hinein. Begleitet werden wir einmal mehr von brummenden Lastwagen, knatternden Traktoren, scheppernden Eselskarren und von leise surrenden Elektrorollern. Plötzlich, dem stetig zunehmenden Verkehrsfluss folgend, stehen wir vor der Heytgah-Moschee im Zentrum Kashgars.
Endlich da, endlich in Kashgar! Völlig überwältigt von all dem Treiben rund um uns herum und der Gefühle zur Ankunft am Ziel unserer Veloreise, brauchen wir erst einige Zeit, um zu realisieren, was genau alles passiert. So ist es denn gut, wenn wir bei einem Cay im Innenhof der Jugendherberge, erst einmal die Seele baumeln und den Gedanken freien Lauf lassen können.
Zirka drei Stunden kurzweiliges Fahren und jede Menge Lacher später, heissen wir Elhaman vor der uns bereits bekannten Aschkhana anzuhalten. Als Dank fürs Mitnehmen offerieren wir den drei stetigen Mitfahrern, sowie dem unterwegs zugestiegenen Freund derer, eine Suppe und die von uns so geliebten Momos. Nachdem die Thermosflasche mit frischem Tee gefüllt worden ist, die Velos vom Truck abgeladen wurden und ein Erinnerungsphoto geschossen worden ist, düst der MAN - Modell Ex-Deutschland - davon. Und wir pedalen gemütlich durch Sary-Tash hindurch und biegen an der einzigen Kreuzung im Dorf links – nach Osten, gegen China – ab.
Das Alajtal raubt uns während der zirka 80 verbleibenden Kilometern schier den Atem. Durch die Weite des Tales schlängeln sich zig kleine Bächlein, welche hin und wieder zu einem grösseren Strom verlaufen, um sich ein paar Kilometer weiter erneut zu teilen. Eine Herde halbwilder Pferde erlabt sich an den letzten, nun schon goldbraun leuchtenden, Grasflächen während im Hintergrund die Gipfel des Pamirs durch die gegen Westen vorbeiziehenden Wolken lugen. Idylle pur!
Das Winken des einsamen Wegwartes aus seiner Hütte erwidern wir freudig, ebenso wie ein Hupen der spärlich vorbeifahrenden Camioneure, meist chinesischer Herkunft. Der Irkeshtampass ist wider erwarten tiefer gelegen, als uns dies die Karte prohezeite. Dennoch sind wir uns nach ein paar Tagen rund um Osh die Höhe bereits schon wieder nicht mehr so gewohnt und unsere Radlerherzen “pöperlen” gehörig auf dem faut-plat-montant zur Passhöhe, welche wir am späten Nachmittag erreichen. Die Stimmung ist einmal mehr gewaltig. Die tief stehende Sonne färbt die weissen Gipfel in ein zartes Abendrot, während zwei grosse Greif durch die nun grau gewordenen Wolken das Tal über uns hinweg queren.
Auf einer Anhöhe mit Blick auf das künstlich an die Grenze gebaute Blechhaus-Dorf Nura picknicken wir und versuchen auszumachen, welche Gipfel denn nun schon auf chinesischem Boden stehen müssten. Nach einem kleinen Abfährtchen zum Dorf wollen wir die letzten kirgisischen Som loswerden. Doch anstatt für die im Magazin ausgewählten Leckereien zahlen zu dürfen, werden mir diese geschenkt und wir darauf hin von der Verkäuferin zu Cay und frischem Brot mit Konfitüre eingeladen. Wir geniessen das wohl letzte Mal kirgisische Gastfreundschaft mit allen Sinnen und sind dankbar, als unsere Gastgeberin schliesslich die für uns schon bald nutzlosen Som als Geschenk für die beiden um uns herumturnenden Kinder akzeptiert. Einmal mehr berührt von menschlicher Herzlichkeit und dankbar pedalen wir die letzten Kilometer dem kirgisischen Grenzposten zu.
Dort erwartet uns ein spezielles Bild. An die 150 LKWs bilden auf der Strasse eine lange Schlange oder füllen die Parkplätze rund um einige Containermagazine und -unterkünfte lückenlos aus. Wir schlängeln uns durch den Planenwald, unter Begutachtung von zig Augenpaaren gelangweilter Chauffeure, vorbei an - der wohligen Wärme in den Kabinen dienenden - dreckig hustenden dicken Auspuffrohren und auf Gaskochern blodernden Teekannen inmitten von Campingstühlen. Am Kopf der Maschinenschlange angekommen, finden wir uns neben einem einfachen Gasthaus und der Baustelle einer neuen Moschee vor geschlossener Barriere wieder. Alles scheint erstarrt zu sein. Eingefroren; gepaart mit der Stimmung eines Goldrausches – so kommt es mir vor. Der Grund für all dies ist ein einfacher: Während der sogenannten Golden Week, den wichtigen Herbstferien Chinas, blieben dessen Grenzposten geschlossen und so mussten auch die Kirgisen ihre Tätigkeit einstellen. Die Folge: Rien ne va plus! Alle müssen warten; sich die Zeit vertreiben.
Etwas erhöht auf einem Hügel nahe der Strasse schlagen wir unser Zelt für die letzte Nacht vor dem Run auf China auf. Noch im Morgengrauen packen wir inmitten einer Pferdeherde unser Zelt zusammen und stehen bald darauf mit den ersten Fussgängern – wo die auch alle hergekommen sind – zwischen Barriere und einer Wand vor sich her surrender Dieselmotoren. Punkt 08:00 Uhr geht die rot-weisse Schranke auf und der Pulk träppelt hastig dem Passkontrollgebäude zu, wo gekonnt Gedrängelt wird. Wen kümmerts? Uns jedenfalls nicht und so lassen wir geduldig vor, wer das Gefühl hat, es könne nun nicht schnell genug gehen.
Nach mehrfachen krigisischen Checks des Ausreisestempels und nach der ersten Passkontrolle - unter der im leichten Morgenwind flatternden roten Flagge mit gelben “Verzierungen” - radeln wir endlich ein ins Reich der Mitte, dem Zielland unserer Radreise. Ein spezieller, berührender Moment. Es scheint uns kaum fassbar, dass wir nun “schon” da sind. Freudig und euphorisch treten wir für ein paar Kilometer auf chinesischem Boden in die Pedale. Eine kahle, rot-graue Landschaft umgibt uns und bildet im Kontrast zum tiefblauen Himmel eine sonderbare Stimmung.
Die Freude zerschlägt sich jedoch bald. Denn beim ersten grossen Grenzgebäude werden wir schonungslos mit den Regeln Chinas konfrontiert. Diese sagen, nachdem einem kontrollhalber die Pässe entnommen wurden, dass alle Fussgänger – zu welchen auch wir gezählt werden – in ein Taxi steigen und zum Hauptkontrollposten in Ulugqat gefahren werden müssen.
Versuche, den Beamten klar zu machen, dass wir mit unseren Fahrrädern “fahrtüchtig” seien und selbstständig zur Passkontrolle gelangen können, stossen auf keinerlei Resonanz. Im Gegenteil heisst es nur noch viel strenger “Ab mit dem Fahrrad auf die Ladefläche des Pickups”, während dem Taxifahrer die Pässe überreicht werden. Dieser annonciert vor der Abfahrt den Preis pro Person und Velo, ehe er auf die brandneue Autobahn einbiegt. Nach einem Tiefflug durch die staubig-trockene Landschaft, der Abfertigung im Kontrollposten, einer Begleitung zur Wechselstube und der Begleichung der Taxirechnung finden wir uns erschlagen irgendwo auf einem Platz am Rande von New Ulugqat, wie es genannt wird, wieder. Verwirrt und konsterniert, doch mit Stempel im roten Büchlein. Es braucht einige Zeit, bis wir uns gefangen haben.
Nachdem wir einen Happen gegessen und uns etwas ausgeruht haben, gondeln wir ins Stadtzentrum. Auf breitspurigen, seidenfein asphaltierten Strassen fahren wir an kleinen Mechanikerbuden, Allerweltsläden, Schulhäusern und Baustellen riesiger Wohnbauten vorbei. Die von allen möglichen Fahrzeugtypen geteilten Fahrbahnen werden von eng beieinander stehenden Strassenlampen gesäumt, die alle mit der Chinesischen Flagge, einer Lampionkette oder irgend einem Chinesischen Zeichensatz versehen sind. Auf unserer Stadtrundfahrt treffen wir am südlichen Stadtrand auf eine Parkanlage, welche auf einem kleinen - anscheinend künstlich aufgeschütteten - Hügel errichtet wurde. Wir nehmen die paar Stufen unter die Füße und erfreuen uns der unerwartet weiten Aussicht vom neuen, im traditionellen Chinesischen Stil errichteten Pavillon zuoberst auf dem Hügel. Wir sehen zig, neuzeitliche Blockbauten und Bürogebäude, die in die nach moderner Chinesischer Manier in Höhe ragen und ihresgleichen suchen. Doch bei genauerem Hinsehen fallen zwischen den vielen hohen Neubauten etliche einstöckige Flachdachbauten auf, wie sie schon seit langer Zeit aus dem rotbraunen Boden hier errichtet werden und eher an die zuvor bereisten Länder erinnern. Ganz nah am Park steht denn auch eine gigantische Yurte, die wohl als Freizeitzentrum genutzt wird - komplett in Beton errichtet und weiss bemalt sowie mit typisch kirgisischen Verzierungen bestückt.
Das Gefühl, zwar offiziell in China und dennoch voll in Zentralasien zu sein, wird uns schliesslich klar bestätigt, als wir auf dem Pavillon nur von kirgisisch-stämmigen Besuchern des Parks umgeben werden. So überrascht es uns denn auch überhaupt nicht mehr, dass die Hochzeitsgesellschaft, welche im Fahrzeugkonvoi auf den Hügel angebraust kommt und zum Photoshooting aussteigt, - wie könnte es denn auch anders sein - kirgisische Gesichtszüge aufweist.
Nach zwei Tagen im Sattel durch eine leicht hügelige steppenartige Landschaft, teils entlang der neuen Autobahn und vorbei an Kamelen und Ziegen am Strassenrand, fahren wir am späten Nachmittag in Shang’atushixiang ein. Auf einer sich lange erstreckenden, breiten Hauptstrasse, gesäumt von grossen Pappeln, nähern wir uns dem Zentrum der Ortschaft. Während der Einfahrt werden wir von Bauern mit Kleintraktoren, von randvoll beladenen Dreirädern und von unzähligen Oberstufenschülerinnen und -schülern, meist zu zweit oder zu dritt auf einem Elektroroller, begleitet. Ein eifriges Treiben um uns herum, welches uns einerseits staunen lässt und von uns andererseits höchste Konzentration abverlangt, um keine Kollision mit den uns ebenfalls anstaunenden Verkehrsteilnehmern zu provozieren.
Wir treffen auf einen nahe der Strasse gelegenen Bazaar, der sich als Ursprung des geschäftigen Treibens herausstellt. Just in dem Moment, als wir die Velos parkieren und uns einem Brotbäcker nähern, ertönt ein Knall sondergleichen - wie eine Explosion und ohrenbetäubend laut. Wir drehen uns zur Strasse um, wo der Knall scheinbar herkam. Zunächst ist nichts zu erkennen, was einer Detonation oder Explosion entspräche, doch dann erkennen wir, dass der Innenreifen an der dritten Achse eines Lastwagens wild umherflattert und allem Anschein nach geplatzt sein muss. Ob dem riesigen Schrecken immer noch etwas verdattert, widmen wir uns dann doch dem Bäcker, seiner Brotbackkunst und dem feinen Fladenbrot mit Zwiebeln und Schwarzkümmel - frisch aus dem Ofen -, worauf wir uns wieder etwas beruhigen können.
Ein letztes Mal schlagen wir unser Zelt auf. Nahe an der Strasse finden wir einen Acker, welcher von Pappeln umgeben und mit Mais-Hirse-ähnlichen Pflanzen - sieht man hier übrigens überall - bestellt ist. Inmitten dieser Pflanzenpracht ist ein freier Fleck wie geschaffen für unsere grüne Villa und so machen wir es uns gemütlich, haben schier den Eindruck, etwas versteckt zu sein. Doch weit gefehlt, denn am nächsten Morgen erhalten wir Besuch von 4 Bauern, die neugierig unsere Ausrüstung begutachten und allerhand wissen wollen. Mit Händen und Füssen sowie mit ein paar Auszügen aus unserem Russisch-Vokabular können wir uns verständigen, wenn auch nur dürftig. Generös helfen sie uns, die Fahrräder durch den Bewässerungsgraben wieder auf den Strassenzubringerweg zu hieven, bevor wir unter ihren - nach wie vor neugierigen Blicken - zu unserer letzte Etappe aufbrechen.
Unsere Karte zeigt nur eine Möglichkeit, um nach Kashgar zu gelangen. Über die Autobahn. So fahren wir schön der nigelnagelneu asphaltierten Strasse entlang zur Autobahnauffahrt. Doch das schon von Weitem sichtbare Schild, was denn alles nicht auf die Schnellstrasse darf, lässt uns erahnen, dass wir uns um eine Alternative kümmern müssen. Und als ich - nur um nach dem Weg zu Fragen - in die Einspurstrecke zur Auffahrt einbiege, kommen mir zwei Blauuniformierte mit gelben Leuchtwesten entgegen gerannt und lassen lauthals verlauten: “No bicycles, no bicycles here!” Nach Erhalt einer Beschreibung für einen alternativen Weg kurven wir alsbald in der korrekten Himmelsrichtung Kashgar entgegen.
Die Strasse führt mitten durch eine riesige Friedhofsanlage, wo vom prunkvollen, riesigen, überdachten Familiengrab aus grossen Steinplatten bis hin zum einfachsten Holzpflock mit eingravierten Initialen hinter einem Kieshaufen alles zu sehen ist. Seltsam einerseits, dass sowohl die Nebenstrasse als auch die Autobahn mitten durch diese Anlage geführt wird, als auch andererseits, dass der Friedhof nicht nur für menschliche Überreste Platz bietet, sondern auch viel Müll hier und da deponiert wird.
Schliesslich erreichen wir eine kleine Anhöhe, von welcher sich mit Blick in den neblig-dunstigen Horizont erste Konturen des Ballungszentrums Kashgar erahnen lassen. Nach und nach schärfen sich diese Konturen zu Hochhäusern, Fabrikgebäuden, Bürobauten oder Wohnblöcken und wir rollen richtiggehend in die Stadt Kashgar hinein. Begleitet werden wir einmal mehr von brummenden Lastwagen, knatternden Traktoren, scheppernden Eselskarren und von leise surrenden Elektrorollern. Plötzlich, dem stetig zunehmenden Verkehrsfluss folgend, stehen wir vor der Heytgah-Moschee im Zentrum Kashgars.
Endlich da, endlich in Kashgar! Völlig überwältigt von all dem Treiben rund um uns herum und der Gefühle zur Ankunft am Ziel unserer Veloreise, brauchen wir erst einige Zeit, um zu realisieren, was genau alles passiert. So ist es denn gut, wenn wir bei einem Cay im Innenhof der Jugendherberge, erst einmal die Seele baumeln und den Gedanken freien Lauf lassen können.