Am Morgen des 29. Mai wechseln wir wieder einmal die Spurbreite und nehmen, wie geplant zwecks Visaverbindlichkeiten und Jahreszeitenbeschränkung, einen Reisebus. Punktgenau zur Abfahrtszeit erreichen wir dank besten Navigationskünsten von Can den Busbahnhof in Ankara, verladen huschhusch unsere “Bisikle” und düsen bald darauf mit dem Bus ab nach Nevşehir. Unterwegs gibts einen kurzen Rast am Ufer des Tuz Gölü, einem 1600m2 grossen Salzsee mitten in Zentralanatolien. In Nevşehir angekommen, prägt sich eine Wolkenfront zu einer Gewitterfront aus, welcher wir rasch einkaufend und dann weiterradelnd entkommen möchten. Leider wird daraus nichts und wir strampeln in unseren Regenkleidern schwitzend bei Blitz, Donner und heftigen Windböen Uçhisar entgegen. Im Pigeon-Valley finden wir zwischen kitschigen Souvenirs einen Schermenplatz bis das gröbste Gewitter vorbei ist. Mit den ersten, wieder durch die Wolken dringenden Sonnenstrahlen erblicken wir die Pracht Kappadokiens. Überall ragen breite, sich gegen oben in einer feinen Spitze verlaufende Gesteinsformationen in die Höhe und schimmern intensiv rot, braun und grün in den nachgewitterlichen Lichtern. Vor dem Souvenirsladen kreist ein riesiger Taubenschwarm und macht die Kulisse perfekt.
Istanbul, und damit den europäischen Boden, verlassen wir per Fähre. Nach einer gut stündigen Überfahrt erreichen wir Yalova, wo es nun nach 10 Tagen Pause, wieder heisst: in die Pedale, fertig, los! Getreu dem Motto “mal ufe, mal abe, mal ufe, mal abe, ...”, wie wir es doch von den letzten Kilometern vor Istanbul noch in Erinnerung haben, kommen wir also wieder ins Radeln. Entlang des Iznik Gölü reiht sich ein Olivenhain an den anderen, so dass wir bald den Eindruck haben, es sein ein einziger. Jeweils der Strasse und somit auch dem See zugewandt, wird jeder Olivenhain mit einem kleinen Artischocken-Gärtli, einem Nuss- oder Feigenbaum abgeschlossen. Wir sehen vorwiegend alte Frauen und Männer, welche am Strassenrand in improvisierten “Budeli” ihre Produkte – v.a. Öl und eingelegte Oliven – anbieten. Leider in so grossen Mengen, dass wir nicht einfach “es Hämpfeli” einpacken können. Am nächsten Morgen füllen wir in Iznik unsere Futter-Vorräte auf. Während ich die Einkäufe in den Sacochen verstaue und sich David nach dem Weg durch die Stadt erkundigt, steht plötzlich ein junger Herr mit zwei Çay vor uns. “Hä?? mir hei doch gar nüüt bstellt...” Er deutet auf den Ladenbesitzer und dieser lässt uns mit einem Lächeln verstehen, dass er uns diese Çays offeriert. “Teşekküler!” - Danke! So und ähnlich ergeht es uns in den nächsten Tagen noch mehrmals. Wir staunen nicht schlecht, wenn wir auch im noch so kleinen Bergdorf ein Çay-Beizli entdecken. Was dann vor sich geht, möchte ich euch beispielhaft hier zu schildern versuchen: zwei Veloreisende strampeln sich durch die Nachmittagshitze durch Berge und Täler. Verschwitzt und dennoch meist vergnügt, kommen sie in ein Dorf. Dort sitzen im Schatten einer Pergola eines unscheinbaren Häuschens gleich am Strassenrand ein paar Männer - die Häupter der meisten sind schon ergraut und mit einem dieser filigran gestrickten oder gehäkelten Käppi geziert. Einer von ihnen entdeckt die beiden Radler und weist seine Kumpanen darauf hin. “bisikletler” – Velos... mit Gepäck!... - und ja: die eine Person ist gar eine Frau...! Dann wird wild gewunken, die Geste des Rührens im kleinen Gläsli von “Çay! Çay!”- Zurufen begleitet, mehrmals wiederholt. “Du, was meinsch? Mache mir es Pöiseli? So nes heisses Çay wär doch jetz guet...” Und so landen wir unzählige Male in solchen “Tee-Budeli”. Innert weniger Minuten versammelt sich dann jeweils eine Runde von 10-20 Männern. Ich glaube, das nennt frau Buschtelefon... Wir beide mittendrinn... Als Reisende habe ich das Privileg als Teil dieser Männerrunden akzeptiert zu sein. “Henne im Korb”... Ganz wohl fühle ich mich jedoch nicht immer dabei... Zu diesen Tee-Runden scheinen nur Männer zugelassen – zumindest haben wir nie Frauen angetroffen – und nur sie scheinen Zeit dafür zu haben. Wir verständigen uns mit Händen und Füssen (waaas? Ihr sprecht kein Türkisch?? Aber hier spricht man doch Türkisch...!!?) und die Herren versuchen, ob wir denn nicht zumindest etwas mehr verstehen, wenn sie laut und deutlich sprechen... Naja... immerhin haben wir bereits herausgefunden, welches die wichtigsten Fragen sind...: 1) Where are you from? oder auch: what is your name – soviel Englisch kann JEDER Türke...! Frage 2) erfolgt über folgende Geste: die beiden Zeigefinger werden ausgestreckt und aneinander gerieben und von einem fragenden Blick gefolgt (seid ihr verheiratet?) und schliesslich 3) bebek (türk. für Kleinkind) ?? Und schliesslich zum Kern der Situation: Der Çay wird hier in zweistöckigen Kannen zubereitet. In der unteren befindet sich heisses Wasser, in der oberen das “Konzentrat”, welches durch die Wärme der unteren Kanne warmgehalten wird. Der Tee wird sehr stark zubereitet und dann jeweils so serviert, dass zuerst ein Schluck “Konzentrat” ins Gläsli gegossen und dieses dann mit Wasser aufgefüllt wird. Nicht fehlen darf: şeker – Zucker. Das Zuckerwürfeli – ganz nach türkischer Art – mit den Schaufelzähnen entzweien; eine Hälfte ins Gläsli, die andere genüsslich auf der Zunge vergehen lassen... Zum offerierten Çay gibts meist auch gleich noch eine Gratis-Wegbeschreibung dazu. Weil wir reisen ja mit einer Karte, haben folglich wohl nicht so viel Ahnung, wo wir uns gerade befinden und die Türken lieben es “ds Längem und ds Breitem” die für uns beste Route untereinander zu diskutieren. Diese sollte uns dann jeweils gleich auch auf die nächste grösstmögliche Strasse führen. Denn mit dem Fahrrad fährt man doch wirklich am Besten auf der Autobahn. Dort ist die Strasse gut. Und es geht immer alles schön geradeaus und flach.... Fahren wir weiter, so wird bald klar, wo die Frauen verbleiben. Auf den unzähligen Pflanzblätzen, Feldern und den steilen Hängen abgerungenen Äckern verrichten sie die Arbeit. Frauen mit geblümten Pluderhosen, dunkeln Blusen und weissen Kopftüchern – dieses Bild wird mich wohl noch lange begleiten, wenn ich an die Türkei zurückdenke... Hie und da haben wir Gegenverkehr der besonderen Art: Schaf-, Ziegen- oder Rinderherden ziehen mit oder ohne Hirt ebenfalls über die Strassen. Meist benutzten Radreisende ja die auf der Karte vermerkten Strassen. Aber es gibt eben auch andere... Und die benötigen dann für eine Strecke, welche sie als lockere Tagesetappe dem Fluss entlang eingeschätzt haben, auch schon mal zwei Tage... Aber ich sag euch: es hat sich gelohnt! Zwischen Vezirhan und Inhisar, dem Fluss Sakarya Nehri folgend, “geraten” wir mitten in die Kirschernte, erhalten an einem Tag wohl mehr als zwei Kilogramm der herrlichen Früchtchen geschenkt, und werden für die steilen Aufstiege x-fach mit wunderbaren Aussichten belohnt und finden abends wunderbare Plätzli für unsere grüne Villa. Entlang es Flusses scheint der Boden fruchtbar und es wird viel Gemüse(Artischocken, Gurken, Tomaten, Salat, …) angepflanzt. Schier unendlich geht es “ufe u abe”, die Vegetation wird schon richtig bergig, über uns kreisen mehrfach Schmutzgeier und das Städtchen Nallıhan kommt und kommt nicht... Dennoch wunderbar: kurz vorher hält ein Auto auf der anderen Strassenseite. Der Herr steigt aus, erzählt, er habe uns schon im Verlauf des Tages gesehen und habe sich gedacht, wir könnten sicherlich eine Erfrischung gebrauchen. Wir bekommen zwei Kübeli feinste Ziegenmilch-Glace überreicht... Welch' ein Geschenk des Himmels! Als würde man uns ansehen, dass uns diese Etappe herausgefordert hat, werden wir in der Stadt von einem Ehepaar zu einem Kirschsaft eingeladen. Die 15-jährige Aycan wohnt während ihres Ausbildungsjahres bei ihnen und schlägt sich als Übersetzerin ganz tapfer! Liebe Aycan, die Rose, welche du mir geschenkt hast, trage ich immer noch mit mir... Von Nallıhan nach Beypazarı fahren wir durch eine weite Landschaft, welche uns mit in rot, ocker und grün geschichteten “Bergen” überrascht. Manchmal hat das ganze schon ein wenig Wüstencharakter. Wie eine Oase scheint uns deshalb der See vor Çayırhan, wo wir uuuunzählige Kormorane beobachten können und auf der Terrasse des Parkhauses in Gesellschaft des Wächters unser Zmittag geniessen. Die Landschaft ist so wunderbar, dass wir die kräftigen Regengüsse und Gewitter welche uns während mehrerer Tage abends warten gut wegstecken können. Also... das ist jetzt auch ein wenig geblufft... Wir haben nämlich gleich zwei Mal hintereinander im Hotel geschlafen... Einen Tag später stehen wir vor dem Ortsschild von Ankara, der türkischen Hauptstadt. Für uns Landeier doch irgendwie nur schwer vorstellbar: in dieser Stadt leben von der Anzahl her mehr als die Hälfte aller SchweizerInnen... In Ankara können wir uns gerade noch rechtzeitig bevor Petrus den Wassereimer über der Stadt ausgiesst in ein sogenanntes “Büfe” retten. Bei Çay, Gözleme und anderen Spezialitäten kommen wir langsam so richtig in der Stadt an. Später suchen wir uns einen Weg durch den dichten Verkehr hinauf zur Hacı-Bayram-Moschee. Während David bei den Rädern Wache steht, lege ich mir ein Kopftuch um, ziehe meine Schuhe aus und tauche für einen Moment in die besondere Welt einer Frauen-Moschee ein (resp. oberer Stock für Männlein, unterer Stock für Weiblein). Was hier nicht alles Platz hat... An eine Säule gelehnt lesen einige Frauen den Qu'ran, andere wiederum knien vor einem Bildschirm, auf welchem Qu'ran-Verse zitiert werden. Durch die weiten Räume rennen lachende Kinder, spielen Fangen. Am Rande sitzen Frauen in Grüppchen zusammen, beten, schwatzen oder geniessen gar den mitgebrachten Çay. Can und Petek sind dann für die nächsten beiden Nächte unsere warmshower-Gastgeber. Wir fühlen uns super wohl und aufgenommen bei ihnen. Petek verwöhnt uns mit ihren Kochkünsten, Can übernimmt die Rolle als Guide bei einer rasanten Stadtrundfahrt durch den unglaublichen Verkehr Ankaras und führt uns an Orte, welche diese Stadt ausmachen. |